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Der Mandarin

14. Dezember 2012 , Geschrieben von Visionär

Der Mandarin

Vor Jahren lebte ein Mandarin, ein Herrscher im fernen Osten. Er liebte sein Land und sein kleines Volk und tat ihm Gutes. Als er alt geworden war, rief er sein Volk zusammen, um ihm einen Vorschlag zu unterbreiten. Wie enttäuscht war er, als man seinen Vorschlag ablehnte. Er nannte seine Untertanen undankbar und zählte ihnen alle seine guten Taten auf, die er getan. „Habe ich euch nicht von meinem Lieblingsgebäck, den süßen, duftenden Zimtsternen gegeben, habe ich nicht Brot und Kleidung verteilt, und war ich nicht bei euch, wenn ihr krank ward?"

„Wohl habt ihr uns", begann ein beherzter Mann, „schon als wir noch Kinder waren und die Jahre danach von euren Zimtsternen gegeben, jedoch wir können sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr riechen, geschweige denn essen. Du meintest es gut und wir wissen euren guten Willen wohl zu schätzen."

„Ihr habt mir, Herr", so sprach einZweiter, „einmal Brot durch euren Diener geschickt, jedoch ich brauchte damals wirklich kein Brot, wohl aber wollte ich euch gerade um Schuhe bitten, die ich dringend nötig gehabt hätte. Wie aber konnte ich euch, nachdem ihr mir ein Geschenk gemacht hattet, mit einer Bitte kommen? Es wäre zu unbescheiden gewesen.

"Ein Dritter trat vor und begann: „Mir, Herr, habt ihr Schuhe geschenkt, und wenn ich gewußt hätte, daß sie dieser Mann braucht, hätte ich sie ihm gegeben, denn ich, verzeiht, ich konnte sie nicht tragen, denn sie paßten nicht. Wohl aber wäre mir euer Rat in einer wichtigen Sache sehr zustatten gekommen. Nach eurem großmütigen Geschenk aber konnte ich euch nicht noch mit dieser Bitte belästigen."

„Ich bin der Aufseher, Herr, und ihr erinnert euch sicher, daß ihr mich be-suchtet, als ich krank darnieder lag.Tag für Tag mit 300 Menschen arbei-ten und auskommen zu müssen, 12 Stunden lang, ist keine Kleinigkeit. Jeden Tag hatte es Streitigkeiten gegeben und einige Arbeiter wurden krank, so daß ich tagelang nichts als Ärger gehabt hatte. Kein Wunder, daß ich selbst krank wurde und Ruhe brauchte, nichts als Ruhe. Menschen konnte ich nicht sehen, und da kamt ihr zu mir. Euer Besuch war gut gemeint, das erkannte ich nachher, als ich gesund war, aber während meine Krankheit nützte mir euer Besuch nichts. Verzeiht—"

„Schon gut", unterbrach der Mandarin. „Natürlich habe ich es gut gemeint, alles, was ich tat. Aber es ist schrecklich, daß ich niemandem wirklich geholfen habe." „Doch Herr", begann ein stattlicher Mann in prächtigen Kleidern, „ihr habt mir wirklich geholfen. Es war ganz am Anfang eurer Regierungszeit. Ich war der Arbeit von Herzen abgeneigt und borgte allerorts Geld, um davon leben zu können. Und dieses mein Leben bestand aus Nichtstun, Trinken und Spielen. Niemand wagte mir Vorhaltungen zu machen und man gab mir, weil man meinen Zorn fürchtete, was ich verlangte. Als man mir schon viel geliehen und nie etwas zurückerhalten hatte, fand man Ausflüchte, um mir nichts mehr geben zu brauchen. So kam ich zu euch, um Geld zu erbitten. Ihr tadeltet ohne Umschweife mein Leben, ja ihr fandet nach meiner Ansicht sehr harte Worte. Dann jedoch sagtet ihr mir einen Schatz zu, wenn ich bereit wäre, mein Leben zu ändern. Was blieb mir übrig, als euch dieses Versprechen zu geben. Ihr zeigtet mir drei verschieden große Äcker. Einen davon sollte ich mit einem tiefen Graben umgeben, dann würde sich das Weitere finden. Ich wählte natürlich den kleinsten Acker, um nicht so viel graben zu müssen. Nachdem ich damit fertig war, schenktet ihr mir das kleine fruchtbare Feld. Ich bebaute es, fand Freude daran, und bald hatte ich mein Selbstvertrauen gefunden, das mir half, ein gutes Leben zu führen. Meinen Wohlstand und mein Glück verdanke ich eurer Weisheit."

„Auch ich", begann ein Zweiter, „bin euch von Herzen dankbar. Ihr wart ein ganz junger Herrscher, als ich zu euch kam, um mich über meine Mitmenschen zu beschweren, die mir —so meinte ich — durchweg nicht gutgesonnen waren. Ihr übergabt mir zwei Säckchen, eines mit Reis, das andere mit Unkrautsamen gefüllt und gebotet mir, jede Nacht ein Körnchen aus einem der beiden Säckchen in das Feld meiner Widersacher zu streuen. Ich war sehr froh, heimlich und in stiller Nacht meinen Feinden etwas Böses antun zu können und streute Unkrautsamen in ihre Äcker. Als die Ernte kam, beobachtete ich das Werk, das ich vollbracht. Achtlos wurde das Unkraut ausgerupft und im Feuer verbrannt. Ich war maßlos enttäuscht. Nun wollte ich es mit Reis versuchen und säte jede Nacht ein Körnchen guten Samens in die Felder. Wie erstaunt und erfreut waren die Menschen, als zur Zeit der Ernte Reis wuchs, wo sie nicht gesät hatten, und ich freute mich heimlich mit. Vielleicht war es meine innere Freude oder irgendein anderes Geheimnis, das mich plötzlich in den Augen der Menschen liebenswert erscheinen ließ. Ich hatte auf einmal viele Freunde und Freude, wo früher Trübsal und Schwierigkeiten gewesen waren. Es gab mir die Lehre, daß eine üble Tat in stiller Nacht nichts Befriedigendes hervorzubringen vermag, auch wenn sie keiner gesehen hat."

„Ich bin euch auch zu Dank verpflichtet, obwohl ihr eigentlich nichts getan habt, oder vielmehr deshalb, weil ihr eben nichts für mich getan habt. Seht Herr, jeden Tag meines Lebens hatte ich einen Wunsch offen, denn ich wußte, daß ihr weise, gut und gerecht seid. Da ihr nie etwas für mich getan, wußte ich, daß ich dann, wenn ich einmal nicht mehr ein noch aus wissen würde, jederzeit zu euch kommen könnte und ihr würdet mir dann diese Bitte nicht abschlagen. Diese Hoffnung, ja, dieser feste Glaube hat mir jeden Tag meines Lebens so viel Zuversicht und Freude gegeben, daß mir alles gelang, was immer ich begann. Später allerdings erfuhr ich, daß ihr nicht mehr weise, sondern töricht ge-worden seid und daß ihr euer Tun um des Handelns willen liebt und nicht mehr nach den Folgen eurer Taten fragt. Ihr kamt mir wie einer vor, der so viel redet, daß er gar nicht mehr merkt, ob er dem andern auch wirklich etwas sagt. Ich hoffte jedoch, daß ihr eines Tages euren Irrtum erkennen und Umkehr halten würdet."

Liebe und Güte sind wie ungebändigte Wassermassen, die ungenutzt verströmen, wenn sie nicht durch Weisheit wohlgeleitet werden. Der Mandarin war bis an das Ende seiner Tage ein weiser, gütiger und gerechter Herrscher, so daß ihn sein Volk liebte und verehrte.

Stern Oktober 1964

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